Ich fahre häufiger aus der Eifel über die A 553 nach Köln. Und wenn man kurz vor der Linkskurve, in der man auf der linken Seite Schloss Falkenlust sehen kann, nach rechts schaut, dann sieht man dort Felder und zwischen Autobahn und der Eisenbahnlinie ein einsames Haus. Dieses Haus hat mich schon seit längerer Zeit fasziniert. Es ist irgendwie ein Rückzugsort. An dieser Stelle gibt es keinen Durchgangsverkehr. Heutzutage muß man lange suchen, um solche Orte so nah an Industrie und Stadt zu finden, wo es kein Durchgangsverkehr gibt und wo ein Haus alleine stehen kann. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken - dieser Ort ist nicht romantisch. Um ihn herum sind Felder und die Autobahn im Westen liegt ca. 145 m vom Haus entfernt, im Norden die Bahnlinie zum Greifen nahe – 5 m! Wahrscheinlich hatte das Haus einmal etwas mit der Eisenbahn zu tun. Nochmals, der Ort selbst ist nicht romantisch, aber er hat meine Phantasie angeregt, über Rückzugsorte nachzudenken.
Da wir gerade bei Autobahn sind; mir war früher aufgefallen, als ich zwischen Köln und Meerbusch pendelte, daß zwischen dem Dreieck Langenfeld und dem Rastplatz Reusrather Heide links und rechts neben der Autobahn häufiger Rehe auftauchten, einmal sah ich sogar Muffelwild. Dort bin ich bisweilen gewalkt, denn nachdem ich während des Tages so viel mit Menschen zu tun hatte, brauchte ich auch Zeit ohne Menschen und natürlich auch die Bewegung. Ich lief neben der Autobahn, denn da kamen keine Menschen hin. Man sieht dort bisweilen Wild, weil es ungestört ist. Ich bin z.B auf Füchse oder Rehe gestoßen. Allerdings leben wir in einer unvollkommenen Welt, man bezahlt in Autobahnnähe mit dem Nachteil des Verkehrs bzw, seinem Lärm. Es ist also auch keine Lösung für Menschen, die Einsamkeit zusammen mit Natur suchen. Andererseits ist so schnell ein Rückzug zu sich selbst möglich.
Kommen wir aber zurück nach Brühl. Dort stehen Schloss Augustusburg und Schloss Falkenlust als Beispiele des Rokoko Stils [1]. Falkenlust ist als Jagdschloß geplant und „liegt am Rande eines abgeschiedenen Wäldchens“, ist also auch als Rückzugsort zu sehen. Jetzt wird man allerdings alle paar Schritte auf Menschen treffen, selbst mitten in der Woche und besonders bei schönem Wetter – anders als auf der gegenüberliegenden Seite der Autobahn. „Ab 1730 entstand im Falkenlustbusch in unmittelbarer Nähe des Jagdschlosses eine der Maria Aegyptiaca geweihte Kapelle, die von Peter Laporterie in Form einer Staunen erregenden Eremitengrotte mit Muscheln, Mineralien und Kristallen ausgestaltet wurde.“ Eremit – gibt es ein besseres Beispiel für Rückzug? Hier muss ich etwas abschweifen, denn Maria Aegyptiaca oder Maria von Ägypten ist so eine Heilige und Wüstenmutter, die es in sich hat [2]. Sie wird als Prostituierte bezeichnet, die in Jerusalem ihre Bekehrung erfuhr. Ging in die Wüste und lebt dort nackt, nur von ihren Haaren bedeckt, erhielt 46 Jahre später die Kommunion von dem Mönch Zosimas zum Osterfest und hatte sich gewünscht, die Kommunion im nächsten Jahr erneut zu erhalten. Zosimas hielt Wort, und Maria wandelte ihm auf dem Jordan entgegen. Nach der Kommunion wandelte sie zurück. Zosimas fand sie ein Jahr später tot. Sie hatte die Bitte in den Sand geschrieben, von ihm begraben zu werden. Der Leichnam war nicht verwest. So weit die Legende.
Ich erinnere mich an die Kindheit, als die Eltern mit uns drei Jungs ins Bergische Land fuhren. Mein Lieblingsziel war das Tal der Einsamkeit [3], das hatte ich so benannt, weil dort außer uns selten jemand da war. Es war ein Geheimtipp von Freunden meiner Eltern, die dort nur ein oder zweimal gewesen sind, weil sie danach ins Norddeutsche (nach Buxtehude) verzogen sind. Aber wir haben den Ort in der Kindheit oft aufgesucht, da konnte man sich auf eine Wiese legen, Mutter hatte für Picknick gesorgt. Ich spielte mit den Brüdern am Bach, aber dann, auch mit 12 Jahren, sehe ich mich noch, wie ich barfuß über den Feldweg laufe, Dinge entdecke, aber auch die Ruhe zum Nachdenken genieße.
Kommen wir auf die glückseligen Inseln, die mich schon mehrfach beschäftigten. Ich berichtete vor einigen Monaten kurz über einen Aufenthalt auf dem Atoll Aitutaki, wo ich eine Woche allein in einem Haus mit Garten und Strand wohnte [4], was aber mehr durch Zufall geschah. Man sagt ja, wer erst auf eine einsame Insel im Pazifik fahren muß, um Ruhe, Einsamkeit und Erkenntnisse zu gewinnen, der wird dies nie erreichen. Bei der einsamen Insel im Pazifik kam mir heute eine Insel in Erinnerung, die zum Königreich Tonga gehört, 'uoleva,von der ich gelesen hatte, daß man erst die Schweine tränken muß, bevor man sich im Freien Duschen kann, weil sonst die Schweine einem das Wasser vom Körper lecken. Ich habe diese Insel nie besucht, ich bin nur einmal mit der Fähre daran vorbei gekommen. Es war nicht mein Traum vom Pazifik. Und ich habe jetzt nur eine Tagebuchnotiz gefunden [5]. Ich habe den ganzen Führer für Tonga gerade durchgelesen [6], aber die betreffende Stelle nicht mehr gefunden. Ich weiß nicht mehr, woher ich es habe. Aber das Tränken der Schweine vor dem Duschen bringt diese falsche Romantik wieder auf ein normales Niveau zurück. Und das ist notwendig! Wer in Einsamkeit und Rückzug irgendeine Romantik sieht, der wird nichts daraus gewinnen können.
Kommen wir zurück zu den Einsiedlern, Kartäusern, den Wüstenvätern oder auch Wüstenmüttern oder den Mönchen auf dem Athos. Die Eremiten wollten Ablenkungen vermeiden, um so in einfachen Lebensumständen zu beten und zu meditieren [7]. Dies begann im 3. Jahrhundert mit den Wüstenvätern und wurde bis ins Spätmittelalter praktiziert. Es gingen zeitweise so viele Eremiten in die Wüste, daß geregelt werden mußte, wie nah die Zellen (kelliá - κελλιά) untereinander gebaut werden durften [8]. Schon da zeichnete sich ab, daß neben der Einsamkeit auch der Kontakt notwendig war. Die Kartäuser gehen auf den heiligen Bruno von Köln zurück [9]. Wahrscheinlich kennen die meisten das Getränk Chartreuse, das seinen Namen von den Kartäusern hat, denn die haben den Kräuterliqueur erfunden. Die Chartreuse aber ist eine einsame Gebirgsgegend bei Grenoble (Frankreich), in der Bruno den Orden gegründet hat. Die Kartäuser leben in kleinen Häusern, die mit dem Kreuzgang und der Kirche verbunden sind. Auf dem Athos existiert die Siedlungsform der Skiten (griechisch σκήτες), wobei in einer der Formen „Kelliá (griechisch κελλιά ‚Zellen‘), Hütten für einen Bewohner“, rund um einen klösterlichen Zentralbau angelegt sind [10]. Schon früh hatte man also einen Sinn im Wechsel von Umgang und Rückzug von Menschen erkannt.
Mir kommt eine Therapiegruppe in den Sinn, die ich einst zusammen mit dem Klinischen Psychologen betreut hatte. Eine Übung bestand darin, sich einen Ort der der Stille vorzustellen. Nach der Übung befragte eine der Patientinnen eine andere, die beiden hatten sich bereits angefreundet: „Wie war es denn bei dir?“ Vordergründig eine sehr harmlose Frage. Aber die betreffende Person wurde in ein tiefes Loch katapultiert. Was war passiert? Sie hatte sich keinen Ort der Ruhe vorstellen können. Überall war Trubel und sie fand nicht, wo sie sich hätte hin zurückziehen können. Sie hat aber später die Übung dann doch noch zu Ende bringen können. Denn irgendwo kann jeder seinen Ort der Ruhe finden. Und nicht erst im im Grab, denn das ist die letzte Ruhe.
Zusammenfassend braucht man beides, daß Zusammensein mit anderen Menschen und aber auch die Möglichkeit des Rückzuges von anderen Menschen. Das war bei den Wüstenvätern und den Mönchen auf dem Athos, die in den Skiten leben, auch so geregelt. Wie habe ich es für mich geregelt? Wenn ich unter Menschen will, bin ich unter Menschen. Wenn nicht, ziehe ich mich zurück. In meiner Umgebung in der Eifel kenne ich die Wege, auf denen ich sicher auf Wanderer treffe, aber auch die, auf denen ich nur auf Nachbarn treffe, mit denen ich dann auch gerne rede. Oder diese Strecken, auf denen so gut wie nie jemand lang läuft. Wie viel man unter Menschen sein will und wieviel man sich zurückziehen will, muss jeder für sich selbst entscheiden, da gibt es keine generelle Lösungen. Aber einen Ort des Rückzugs sollte man schon finden.
Links und Anmerkungen:
[1] https://www.schlossbruehl.de/jagdschloss-falkenlust/ Seit 1984 in der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maria_von_%C3%84gypten Wikipedia hat die Kurzversion der Geschichte; sie liest sich bei Hans Conrad Zander aber viel interessanter; siehe unter [8], S, 115 ff.
[3] Es handelt sich um das Kollenbachtal.
[4] Sammelsurium (230) 24.07.2023 https://rheumatologe.blogspot.com/2023/07/sammelsurium-230-24072023.html Da finden sich auch Bilder von diesem Rückzugsort.
[5] https://rheumatologe.blogspot.com/2021/10/polynesische-impressionen-eine-reise-in.html und noch ein Text auf Englisch: https://rheumatologe.blogspot.com/2022/01/tonga-from-my-old-travelogue.html
[6] Deanna Swaney: Tonga, a travel survival kit. Lonely Planet, Hawthorn (Australia) 1990. ISBN: 0-86442-077-3.
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Einsiedler
[8] Hans Conrad Zander: Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüstenväter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. ISBN: 3-462-02982-7. S. 21 ff.
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Kart%C3%A4user
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Athos
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