Tuesday, March 19, 2024

K. und der Weise

K. lebte in einer kleinen Universitätsstadt, einer alten Stadt mit verwinkelten Gassen, aber einer anerkannten Universität mit einer prächtigen Bibliothek. Er lernte alle möglichen Wissenschaften und Künste. K. lernte Tag für Tag. Immer größer wurde sein Wissen. Aber an einem Punkt kam er irgendwie nicht weiter mit seinem Wissen. Da hörte er von einem weisen Mann, der kenne den Weg. K. erkundigte sich nach diesem Weisen. Es gab nur wenig über ihn zu erfahren. Kaum etwas stand in den Büchern der riesigen, alten Bibliothek. Aber schließlich fand er heraus, wo dieser Weise lebte. Er nahm einen Zug und er fuhr eine Weile auf einer Strecke ohne Elektrifizierung. K. erreichte ein Städtchen, so klein und rein, wie ein Kurort nur sein kann. Der Zug aber fuhr weiter einem anderen Ziel entgegen. K. nahm eine altmodische Kutsche mit Pferden, die ihn zum Anfang eines Weges brachte. „Hier kann ich nicht weiterfahren“, sagte der Kutscher und wies K. den Beginn eines schmalen Pfades, der sofort in ein Wäldchen führte. K. ging den Weg entlang, der schließlich über einen Berg und hinunter zu einem See führte. Im See aber lag eine Insel, die K. beim Abstieg vom Berge sehen konnte. Er kam in ein kleines Dorf, in dem er einen Fischer mit seinem Boot sah. Der Fischer setzte ihn über. Auf der Insel lebte ganz alleine der alte weise Mann. K. ging zu ihm hin und fragte ihn, ob er dort bleiben und lernen könne. K. sah sofort, daß der alte Mann blind war. Er stand in einem abgetragenen Anzug mit einem Stock vor zwei Hütten und einem Brunnen. Und der alte Mann sagte: „Gerne kannst du bei mir bleiben und lernen. Geh du in diese Hütte und ich gehe in die andere Hütte, morgen werden wir uns auf den Weg begeben.“ Am nächsten Tag erklärte ihm der Weise, wie es weitergehen solle. Es begann hinter den Hütten ein Weg. „Dorthin werden wir gehen“, sagte der Weise. „Folge du mir nach, denn ich kenne den Weg.“ K. durfte ihm alle Fragen stellen, die ihm einfielen. Keine Frage war unerwünscht und jede Frage war erlaubt. Einzig mußte er vorher, als er die Frage schon für sich formuliert hatte, überlegen, ob er sie mit seinem Wissen nicht doch beantworten könne. Der alte Mann ging auf dem Weg und K. folgte ihm. K. mußte sich erst einmal an Schritt und Geschwindigkeit, an Weg und Natur gewöhnen, aber dann wollte er eine Frage stellen, dachte noch einmal darüber nach und konnte das Problem auf dem Weg lösen, das ihn doch schon Jahre beschäftigt hatte. Oder er hatte eine Frage, die dann in mehrere andere Fragen zerfiel, aber er konnte sich Frage für Frage im Rhythmus des Weges beantworten. So gingen sie schweigsam, der alte Mann voraus und K. hinterher. So gingen sie Tag für Tag. So gingen sie Woche für Woche. So gingen sie Monat um Monat. Aus Monaten wurden Jahre. Nie stellte K. eine Frage, denn alle Fragen wußte er auf diesem Weg zu beantworten. Schließlich sagte der Weise: „Nun habe ich dir alle Fragen beantwortet, die ich beantworten kann.“ K. antwortete: „Ja!“ Und dankte ihm. Sie verabschiedeten sich und K. ging zurück ans Ufer, winkte dem Boot, das ihn wieder übersetzte. Er ging über den Berg und das Wäldchen zurück. Und dort stand auch eine Kutsche, die ihn wieder zum Bahnhof im Kurort brachte. Und schließlich kam er auch wieder in der kleinen Universitätsstadt an. Nicht viel hatte sich geändert, denn Dummheit ändert sich nicht. 


 
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