Eigentlich wollte ich etwas über die Freude schreiben, daß ich geimpft bin und dabei auch zur Besonnenheit aufrufen, weil dadurch die Pandemie nicht beendet ist. Ich hatte in den letzten Tagen Walther von der Vogelweide [1] gelesen und fand eine ähnlich Freunde in seinem Gedicht „Ich hân mîn lêhen“, aber da kam ich durch die Übersetzung in ein Geflecht von Ideen, die mit dem Impfen nichts mehr zu tun haben, aber mich so sehr interessierten, daß ich sie weiter verfolgte. Am Ende habe ich darüber nachgesonnen, warum man die Länge der Monate nicht anders hätte gestalten können. Ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen [2].
Walther von der Vogelweide war ein fahrenden Poet, ein Sänger, den es von Engagement zu Engagement durch Süddeutschland und Österreich trieb. Das ist vielleicht ganz lustig, wenn man jung ist, aber in späteren Jahren will man doch im Winter einen festen Wohnsitz haben [3]. Als er sein Lehen bekam, schrieb er „Ich hân mîn lêhen“. Ich hatte zwei gedruckte Ausgaben von seinem Gedicht, also auch mit Übertragungen.
„Ich hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen.
nû enfürhte ich niht den hornunc an die zêhen, …“ [4]
Peter Wapnewski übersetzte es so [5]:
„Ich hab mein Lehen, in alle Welt ruf ich's hinein: ich hab mein Lehen!
Nun fürchte ich nicht mehr den Februarfrost an den Füßen,“ - warum nicht an den Zehen?
Der nächste Versuch geht an Thomas Kling [6]:
„Ich hab mein lehen – hallo ihr – ich hab mein lehen!
Jetz fürcht den feber-frost ich nicht mehr an den zehen,“
Der Austriazismus Feber ist deutlich besser als Februar, insbesondere, da Walther von der Vogelweide in Österreich unterwegs war.
Ich schlage nun folgende Übertragung vor:
Ich hab mein Lehen, hallo Welt, ich hab mein Lehen!
Nun fürchte ich den Hornung nicht mehr an den Zehen, …
Kennt man den Hornung wirklich nicht mehr? Wahrscheinlich ist für die Wortbildung die Sammlung des Horns (Geweihe) aufzufassen [7]. So lange ist das Wort Hornung doch nicht verschwunden, daß man es nicht mehr verstehen könnte; auch wenn die letzte Renaissance des Wortes nicht so rühmlich war.
Warum aber gibt es dieses komplizierte System mit wechselnden Monatslängen? Die Römer haben Schuld am Februar, denn der war der kürzeste Monat und wurde so in den Julianischen Kalender übernommen. Aber wir wissen ja: „Die spinnen, die Römer!“ Also der Februar hat 28 Tage, April, Juni, September und November haben jeweils 30 Tage, und Januar, März, Mai, August, Oktober und Dezember dauern jeweils 31 Tage. Die Erdbahn um die Sonne ist nicht kreisförmig sondern elliptisch, so daß unser Winterhalbjahr (179 Tage) kürzer ist als das Sommerhalbjahr (186 Tage). Deshalb schage ich folgende kleine Änderung in den Monatslängen vor:
Januar 30
Februar 30
März 30
April 30/31 (hier kommt der Schalttag hin)
Mai 31
Juni 31
Juli 31
August 31
September 31
Oktober 30
November 30
Dezember 30
So kommen wir den astronomischen Gegebenheiten deutlich näher. Nun dauern die Monate des Winterhalbjahres 180 Tage (zuvor 182) und des Sommerhalbjahres 185 (zuvor 183). Bin ich nun ein Römer? Gut, aber wenn wir bei den Monaten alles beim alten lassen, dann behalten wir bitte auch die Sommerzeit.
Walther von der Vogelweide war nun froher Dinge, da er im Winter nicht jede schlechte Stelle annehmen mußte. Ihm war eine zentnerschwere Last von der Seele genommen [8]. Wenn wir nun vollständig geimpft sind, dann dürfen wir uns freuen, denn wir sind besser geschützt; und mit uns auch unsere Umgebung. Allerdings geht die Pandemie weiter und auch nach der Impfung dürfen wir nicht nachlassen. Ich bin auch dafür, daß Geimpfte weiter Masken tragen, denn man kann nicht gut auseinanderhalten, wer geimpft ist und wer nicht. Außerdem sollten wir mit den Nichtgeimpften solidarisch sein, und dazu gehört es, daß es mit Privilegien nicht überhand nimmt.
Und wenn ich jetzt nicht Walther von der Vogelweide gelesen hätte? Ja, dann hätte ich vielleicht Quirinus Kühlborn gelesen [9].
Links und Anmerkungen:
[1] Walther von der Vogelweide, ca. 1170-1230 https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_von_der_Vogelweide
[2] Ich mußte jetzt natürlich nachschlagen, wie es zu der Redewendung gekommen ist. Und als ersten Treffer, der meine Aufmerksamkeit erregte, kam ich auf einen Artikel zu Niklas Luhmann [a], dummerweise war da von 70.000 Zetteln die Rede und der Universität Bielefeld [b), so daß ich sofort an Jörg Drews [c] dachte und an die 120.000 Zettel [d], die Arno Schmidt für Zettel’s Traum beschrieben hatte, bevor er das Werk niederschrieb. Die Frage, wie viele Zettel er überhaupt beschrieben hatte, war aktuell nicht zu klären, würde mich aber doch interessieren [e]. Vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen beschreibt die immer kleinere Aufsplitterung des Originalthemas [f], so daß man am Ende den Baum in kleine Hölzchen zerlegt hat. Jemand hat einmal Arno Schmidts Zettel’s Traum als den Versuch gedeutet, den Kölner Dom aus Streichhölzern nachzubauen – in Originalgröße [g].
[a] https://www.deutschlandfunk.de/vom-hoelzchen-aufs-stoeckchen.691.de.html?dram:article_id=55744
[b] Johannes Schmidt, Soziologe an der Bielefelder Universität, wurde zum Zettelkasten von Niklas Luhmann interviewt.
[c] Jörg Drews (1938-2009) war Literaturwissenschaftler an der Universität Bielefeld und war einer der Begründer, wenn nicht der Gründer, des Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikats [h] nach Erscheinen von Arno Schmidts Zettel’s Traum. https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%B6rg_Drews
[d] https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/zettels-traum/14432
[e] Vielleicht könnte die Information über die Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld ermittelt werden.
[f] https://www.cosmiq.de/qa/show/1539552/woher-kommt-der-Ausdruck-von-Hoecksken-auf-Stoecksken/
[g] Die Zitatstelle ist mir leider entfallen. Ich muß mich dringend bei der Asml mit meiner neuen Email-Adresse anmelden. U.U. weiß Karl-Heinz Müthers die Stelle auswendig.
[h] Aus dem Dechiffriersyndikat ist dann der Bargfelder Bote entstanden. https://de.wikipedia.org/wiki/Bargfelder_Bote
[3] So ähnlich ist die Stimmung in Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“: … „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ich_h%C3%A2n_m%C3%AEn_l%C3%AAhen
[5] Walther von der Vogelweide: Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Peter Wapnewski. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 2000. ISBN: 3-596-26052-3 Bei „in alle Welt ruf ich's hinein“ singt in meinem Kopf Ina Deter.
[6] Thomas Kling: Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert eingelagert und moderiert von Thomas Kling. – Köln: DuMont 2001. Kann ich nur weiterempfehlen [a].
[a] Ja! Auch wenn ich mit der Übertragung nicht 100% d’accord gehe, den Sprachspeicher habe ich oft im Urlaub dabei. [b] Im Flugzeug sieht man häufig Leute mit dickbändigen Romanen, von denen sie dann fünf Seiten lesen. Das lohnt sich nicht! Aber zwei oder drei Gedichte gehen immer. Und dann ist dieser Sprachspeicher ein tolle Sache, denn er hat eine praktische Größe.
[b] Bin ich jetzt (oder nach Kling „jetz“) abgeschweift? Ich hätte lieber *abgeschwiffen* genommen, wegen des Reimes.
[7] https://www.dwds.de/wb/etymwb/Hornung Interessanterweise ist im Althochdeutschen bereits Hornung nachgewiesen, das im Mittelhochdeutschen zu Hornunc wurde.
[8] Das mit der zentnerschweren Last kann jeder selbst nachschlagen.
[9] Quirinus Kühlborn: Der 15. Kühlpsalm steht auch unter [6]. Und auch der 62., der eine Übertragung von „Die dunkle Nacht“ von Johannes vom Kreuze ist, was Loreena McKennitt als „The Dark Night of the Soul“ so schön vertont … nun ist aber Schluss.
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