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Der dritte Sonntag vor der Passionszeit hat den lateinischen Namen Septuagesimä, ab jetzt sind lateinische Namen auch gebräuchlich, anders als es letzte Woche gewesen ist. Es bedeutet 70 Tage (vor Ostern), aber bitte nicht nachrechnen, denn es kann nicht genau aufgehen. Seit etwa dem sechsten Jahrhundert wurde der Passionszeit noch eine Vorfastenzeit vorangestellt. Trotzdem ist die liturgische Farbe Grün und nicht Violett. Das aktuelle Evangelium handelt von der Geschichte der Arbeiter im Weinberg – dazu kommen wir gleich. Die Kernaussage ich: „Nicht die eigene Leistung zählt, sondern Gottes Gnade.“ [1] Dazu paßt selbstverständlich der Wochenspruch: „Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ [2]
In der Geschichte der Arbeiter im Weinberg wird erzählt, wie Arbeiter über den Tag angeworben werden und sie, egal wann, übereinkamen, daß der Lohn einen Silbergroschen betrage. Noch kurz vor Ende des Tagewerks werden die letzten angeworben und auch sie bekommen einen Silbergroschen, als die an die Reihe kamen, die als erste angeworben worden waren und den ganzen Tag gearbeitet hatten, dachten sie, sie würden mehr bekommen und bekamen aber auch nur einen Silbergroschen. Da murrten sie. Da sagte der Besitzer des Weinbergs zu einem: „Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ [3] Eigentlich hatten sie doch recht, die den ganzen Tag gearbeitet hatten? Jedenfalls denken wir so, wenn wir die Arbeitsleistung heranziehen. Aber hier geht es um eine Gerechtigkeit, die niemanden ausläßt. Nicht die erbrachte Leistung zählt, sondern Gottes Gnade. Das wird ähnlich in der Epistel angesprochen, deren Textauszug heute sehr kurz ist und im letzten Vers gipfelt: „Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ [4]
Auch der Predigttext ist heute kurz, aber dafür hat er es auch in sich, zitieren möchte ich die mittleren zwei Verse: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.“ [5] Achtung! Abschweifung! Eines der vier grundlegenden Bücher, die der Neo-Konfuzianer Zhu Xi [6] festgelegt hatte, heißt „Lehre vom Mittelmaß“ [7]. Man soll die Mitte und damit Harmonie finden. “中不偏,庸不易。” [Die Mitte strebt nicht nach den Seiten, das Unveränderliche ist nicht einfach] findet man im Drei-Zeichen-Klassiker (三字經) [8]. Und den Weg der Mitte propagierte auch Buddha. Will der Prediger nun zur Gleichgültigkeit aufrufen? Das sei ferne. Es geht vielmehr darum, uns nicht zum Maß der Dinge zu machen, ja genau wie es aktuell seit einigen Wochen in den USA passiert, und in Selbstgerechtigkeit eine realistische Sicht auf unsere Grenzen zu verlieren. Es ist gut an sich zu arbeiten, zu lernen, sorgfältig zu denken, aber Fehler und Scheitern ist Teil des Lebens und nicht zu vergessen, das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und Güte. Das Einebnen, das Nivellieren finden nicht nur hier sondern auch z.B. hier: „Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserem Gott!“ [9]
Das leitet jetzt zum Gottesdienst in der Christuskirche über, denn dort feierten wir am Vorabend von Septuagesimä den Gottesdienst als Evensong, einem Abendgottesdienst nach Form der anglikanischen Kirche aus dem 16. Jahrhundert [10], in dem Lobgesänge ein besonderes Gewicht haben. Eigentlich sollte dieser Gottesdienst in der Versöhnungskirche stattfinden, aber das ging wegen der weiterhin defekten Heizung nicht.
Even kann man auf „eban“ zurückführen, das im Altsächsischen und im Althochdeutschen gleich war. Man kann es also mit eben, glatt, gerade, ausgeglichen übersetzen. In der Form Evensong wurden Elemente aus Vesper und Komplet übernommen, der Gottesdienst wir vom Chor getragen, der in der Christuskirche von der kantorei coro con spirito und dem jugendchor singaholics unter der Leitung von Mechthild Brand und mit Klavierbegleitung von Roland Techet gestellt wurde. Es war ein erhebendes Erlebnis. Mir hatte der Choral „Thou Wilt Keep Him in Perfect Peace“ [11] von Samuel Sebastian Wesley [12] besonders gut gefallen. Abschluß bildete ein Duett von Orgel (Mechthild Brand) und Klavier (Roland Techet), das mir ebenso gefallen hat.
Die liturgische Farbe ist Grün. In Köln stand das Altargesteck die meiste Zeit hinter dem Chor und das war gut so, denn so besonders sah es nicht aus. In Kall stand aber wiederum ein prächtiges Gesteck bereit. Ich habe sogar die grünen und violetten Blüten gesucht – die grünen sind Chrysanthemen und die violetten sind Dahlien. Beide passen in die aktuelle Zeit der Liturgie.
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Inspiriert vom täglichen Blumenstrauß
auf einem Fahrrad von Ai Weiwei (艾未未).
Links und Anmerkungen:
[1] https://kirchenjahr-evangelisch.de/septuagesimae/
[2] Dan 9,18
[3] https://www.die-bibel.de/bibel/LU17/MAT.20 Mt 20,1–16
[4] https://www.die-bibel.de/bibel/LU17/PHP.2 Phil 2,12–13
[5] https://www.die-bibel.de/bibel/LU17/ECC.7 Pred 7,15–18
[6] Zhu Xi (朱熹) lebte in der Song-Dynastie und zwar von 1130 bis 1200.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zhu_Xi
[7] „Die Lehre vom Mittelmaß“ oder das Zhong Yong (中庸) beinhaltet den Mittelweg und den gesunden Menschenverstand. https://de.wikipedia.org/wiki/Mitte_und_Ma%C3%9F
[8] San Tzu Chi.g. 三字經. Elementary Chinese. Translated and edited by Herbert A. Giles. 2nd ed. Cambridge 1910.
[9] Jes 40,3
[10] Hier steht mehr dazu: https://michael-pfeifer.de/evensong/
[11] Thou Wilt Keep Him in Perfect Peace von Samuel Sebastian Wesley kann man sich auch anhören:
https://www.youtube.com/watch?v=jbyTLETKy-c Das ist eine Zoom-Version.
https://www.youtube.com/watch?v=lvuFNvNhc2g Abendmusik Chorus, Plymouth Brass and organist Stephen Krahn conducted by Sir David Willcocks.
Youtube hat noch weitere Versionen, aber die schönste war für mich natürlich die in der Christuskirche, einfach durch den Live-Effekt.
[12] Samuel Sebastian Wesley (1810-1876) war ein englischer Organist, Chorleiter und Komponist. Sein Lied „Die Kirche steht gegründet“ ist Nr. 264 im Evangelischen Gesangbuch. https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Sebastian_Wesley
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