Michael Braun hat den LYRIK-Taschenkalender 2014 herausgegeben. 17 Dichterinnen und Dichter stellten jeweils zwei Lieblingsgedichte mit Kommentar vor. Von diesen wählte der Herausgeber je ein exemplarisches Gedicht aus und kommentierte es. In diesen Taschenkalender habe ich nun wieder Annotierungen und Assoziationen geschrieben. Vielleicht so ein wenig wie Daniel Spoerris: An Anecdoted Topography of Chance (1966 Something Else Press, New York / Cologne). Diese Annotationen stammen aus den Jahren 2023-2025.
06. KW
Selma Meerbaum-Eisinger: Tragik
„... daß man die Rauch ins Nichts verfließt“ -: ist denn diese Zeile nicht die Tragik selbst?
Rauch -: Ich hatte gestern die Idee, daß Ruach und Rauch in geschriebenem Deutsch doch nah beiEinander liegen. Kann man so ein GedichtFRagment lesen, ohne an Paul Celans Todesfuge [1] zu denken?
Man verfließt nicht wie Rauch im Nichts, schon gar nicht in Auschwitz. Da ist auch nicht von Bedeutung, daß die junge Dichterin im ArbeitsLager Michailowka [9] 1942 an Flecktyphus starb [2]. Dieser Rauch steht immer noch am Himmel, dunkel, grausam und wird nicht verwehen.
„Ich habe keine Zeit gehabt“ -: stimmt und darin liegt die Tragik, aber letztlich geht es irgendWann jedem Menschen so.
„Ich habe keine Zeit gehabt“ -: Das empfand ich ganz deutlich, als ich 碧巖錄 Bi-Yän-Lu [3] „Die Niederschrift von der smaragdenen Felswand“ von Wilhelm Gundert [4] las, wie er merkte, daß sein Leben für den letzten Teil des Werkes nicht ausreichte.
Gerade habe ich zwei Kerzen entzündet, nachdem die DeckenLampe nur zu grelles Licht in den grauen WinterMorgen warf, nur um Minuten später dem leichten Rauch der gelöschten Kerzen hinterHer zu blicken. Der Rauch verfließt und der Nebel gibt langsam mehr Licht. Aber all das ist zu wenig Trost [5].
VerGangenheit
die Ver-
Gangenheit
Trotz
Aller
Ihrer
Schatten
ÜberSchattet
Nicht
Sie
ErLeutet
Den
Der sich
ErLeuchten
Lassen will
06. KW
Kommentar: Bianca Döring
Blitz [6] / Rauch umschreiben nur wie wenig faßbar und wie vergänglich das Leben ist.
Der Kürze des Lebens tritt Seneca entgegen in „de brevitate vitae“ [7], weil der Mensch seine Zeit zum Beispiel mit dem Anhäufen von Dingen vergeudet.
1924-2024 -: 100 Jahre.
Womit der Mensch seine Zeit auf Erden vergeudet -: Big Brother, Talkshows oder Fernsehen überhaupt. Heinz Erhardt schrieb: „Damit wir sehen, was wir hören / Erfand Herr Braun die Braunschen Röhren. / Wir wär'n Herrn Braun noch mehr verbunden, / Hätt' er was anderes erfunden.“ [8]
Links und Anmerkungen:
[1] „wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“ - aus „Todesfuge“ von Paul Celan (1920-1970). https://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66
[2] Selma Meerbaum-Eisinger, eigentlich Selma Merbaum, (1924-1942) war eine rumänische deutschsprachige Dichterin, die als folgte Jüdin im Arbeitslager Michailowka am Fleckfieber verstarb. Sie war eine Cousine 2. Grades von Paul Celan (die Väter der Mütter waren Brüder).
https://de.wikipedia.org/wiki/Selma_Meerbaum-Eisinger
[3] Das Biyan Lu (Chinesisch: 碧巖錄, Japanisch: 碧巌録) oder auch Bi-Yän-Lu [3a], im Deutschen: Aufzeichnungen vom türkisblauen Felsen oder, wie Gundert es übersetzte: Niederschrift von der Smaragdenen Felswand [3b], ist eine Sammlung von 100 Gong-ans (jap. Kōans) aus der Blütezeit des chinesischen Chan-Buddhismus (Zen) in der Song-Dynastie. Der Name leitet sich von dem Namen des Raumes im Tempel her, Biyan Yuan (碧巖院), in dem Yuanwu Keqin (Chinesisch: 圓悟克勤) [3c] die meisten seiner Kommentare geschrieben hat.
[3a] https://de.wikipedia.org/wiki/Biyan_Lu
[3b] Wilhelm Gundert (Übersetzung und Erläuterung): Bi-Yän-Lu Niederschrift von der smaragdenen Felswand. MarixVerlag, Wiesbaden 2005. ISBN: 3865390315.
Die Ausgabe enthält alle drei Bände, die von 1960-1973 erschienen waren. Der letzte Band erschien posthum.
[3c] Yuanwu Keqin (Chinesisch: 圓悟克勤) lebte von 1063 bis 1135. https://en.wikipedia.org/wiki/Yuanwu_Keqin
[4] Über Wilhelm Gundert kannte ich nur den Text von Dietrich Seckel [4b] S. 153-156 im dritten Band. Ich schaute jetzt bei Wikipedia [4a] nach und da steht u.a. über Wilhem Gundert: „Er gilt neben Walter Donat als überzeugter Verfechter des Nationalsozialismus, ...“. Und: „1945 wurde er als politisch belastet entlassen, 1952 jedoch im Rahmen der Entnazifizierung als „entlastet“ eingestuft.“ Der erste Band erschien 1960, da war Gundert bereits 80 Jahre alt, mit 580 Seiten (Koans 1-33). Der zweite Band erschien 1967 mit 364 Seiten (Koans 34-50). Der dritte Band erschien posthum mit 106 Seiten zum Thema (Koans 51-68), d.h. er mußte den Text kürzen. Die Koans 69-100 konnte er nicht mehr bearbeiten.
[4a] Wilhelm Gundert (1880-1971) „war ein deutscher Ostasienwissenschaftler, der sich vor allem der buddhistischen Literatur Chinas und Japans widmete“. https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Gundert
[4b] Dietrich Seckel (1910-2007) gilt als einer der Begründer der universitären Ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Seckel
[5] Ein Quantum Trost (orig. Quantum of Solace) ist ein britisch-US-amerikanischer Agententhriller der James-Bond-Reihe mit Daniel Craig und Olga Kurylenko. https://de.wikipedia.org/wiki/James_Bond_007:_Ein_Quantum_Trost
[6] René Char: Einen Blitz bewohnen. Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M 1995. ISBN: 3-596-12675-0.
[7] Seneca: Von der Kürze des Lebens (de brevitate vitae). Mit einem Nachwort von Christoph Horn. dtv Verlagsgesellschaft, München 2007. ISBN: 9783423342513.
[8] Heinz Erhardt (1909-1979), deutscher Filmschauspieler und Humorist. https://www.zitate.de/autor/erhardt,+heinz
[9] Bianca Döring schrieb „Michailowska“, das ist mir erst gerade aufgefallen. Es muß aber Michailowka (aus dem Russischen: Михайловка; der Ort gehört zur Ukraine und lautet auf Ukrainisch: Михайлівка) heißen. Michailowka liegt etwa 275 km östlich von Czernowitz (Ukrainisch: Чернівці).
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