Die Steglitzhofstiege
oder
Das Treppenhaus im Hinterhaus
in der Schöneberger Straße
Der Hinterhof, viel grüner und verwunschener als in der Kindheit
„Über den Hof sehe ich die anderen ganz nah,
die leben wie ich, Kleider vor dem Fenster.“
Hinterhof Nachteile [1]
Martin Zingg
Meine Eltern sind in Steglitz aufgewachsen. Ich habe als Kind das Hinterhaus in der Schöneberger Straße noch erlebt und meine Beobachtungen stammen aus der Zeit Mitte bis Ende der 1960iger Jahre. Meine Großeltern sind dann in ein Haus am Kurfürstendamm umgezogen, damit die Großmutter nicht mehr bis in den dritten Stock steigen mußte.
Durch den Flur des Vorderhauses gelangte man in den Hof mit dem Hinterhaus. Das Haus nebenan war ausgebombt und man hatte die Ruine nicht wieder aufgebaut. Mein Großvater schimpfte darüber, denn die Wände von Schlafzimmer und Wohnzimmer waren keine Außen. sondern nur Zwischenwände und somit nicht isoliert. Heute nicht mehr denkbar. Die Naherwartung, daß man das Haus wieder aufbaue, erfüllte sich nicht. Großvater hat dann von Innen isoliert. Der Hof reichte auch bis zur Alexanderquelle, einem Lokal an der Ecke Schöneberger Straße und Holsteinische Straße, wo einmal ein Frau in den Tod gesprungen war, ich konnte noch den blutigen Fleck auf dem Steinpflaster im Hinterhof sehen – so ähnlich wie ich es später in Gyantse gesehen hatte [2]. Interessanterweise kannten sich meine Eltern nicht von diesem Hinterhof her, vielleicht waren in der Kindheit auch fünf Lebensjahre ein zu großer Altersunterschied. Mein Vater scheint aber öfters dort gewesen zu sein, wie er in seinen Memoiren schrieb [3].
Die Tür zum Treppenhaus war üblicherweise nicht abgeschlossen; meist war sie angelehnt und für Kinder bewegte sie sich schwer. Das Treppenhaus roch nach Staub und Kehrspänen und wahrscheinlich auch nach einem Putzmittel vom hölzernen Treppengeländer, das sich ohne Absätze über die Stockwerke zog. Der Boden war mit braunem Linoleum bedeckt und die Kanten der Stufen hatten Messingleisten. Die Holzstufen und Absätze waren teilweise durchgetreten und die Schritte knarrten in unregelmäßigem Rhythmus.
Die alten Fenster waren zum Teil einfach durch Fensterglas ersetzt worden, aber es waren noch viele Scheiben aus gelbem und grünen Glas vorhanden. Im Sommer fiel das Sonnenlicht durch die Fenster und hinterließ kaleidoskopartige Flecken von Weiß, Gelb und Grün auf den weiß getünchten Wänden und dem braunen Linoleum. Vielleicht interessieren mich heute noch die Lichtflecken in Kirchen so sehr, wenn die Sonne durch das Buntglas scheint. Und alles arbeitete in der Wärme: Holz, Linoleum, Politur, Staub, den man in Schatten auch sehen konnte, und Kehrspäne.
Wenn man von den Großeltern noch ein Stockwerk hochstieg kam man auf den Dachboden, der erst recht staubig war. Dort durften wir Kinder auch nur in Begleitung hin, vielleicht, wenn der Opa etwa hochbrachte oder die Oma Wäsche zum Trocknen aufhängte. Dafür brauchte man einen Schlüssel. In den Kriegsjahren (2. Weltkrieg) und der ersten Hälfte der 1950iger Jahre hatte der Großvater dort auch Fruchtweine hergestellt.
Der Keller war trocken; auch er hatte eine Extratür, für die man einen Schlüssel benötigte. Die Stufen waren aus Ziegeln und sehr uneben und für Kinder hoch, höher als die Stufen des Treppenhauses. Der Keller roch nach Kohle und Zement, vielleicht auch Rattenurin. Es war dunkel, was aber den Großvater nicht abhielt, davon zu berichten, wie eine verrückte Mitbewohnerin mit einer Axt auf ihn losgegangen war. Sie kam dann in die Nervenheilanstalt – ich bin mir nicht sicher, daß der Großvater Bonnies Ranch [4] erwähnte, denn das wäre eher ein Ausdruck gewesen, den meine Onkel gebraucht hätten.
Beim nächsten Besuch in Berlin möchte ich mir das Treppenhaus vom Hinterhaus noch einmal ansehen; aber wer weiß, ob die Stufen nicht schon vor vielen Jahren erneuert wurden und dort nichts mehr knarrt. Die Fenster wurden sicherlich ausgetauscht und es gibt die Farbspiele an den Wänden nur noch in meiner Erinnerung.
Feuerbach Straße 8 mit dem Balkon, auf dem ich in den Kindheit war - die Geranien sind immer noch da. |
Links und Anmerkungen:
[1] In: Lyrik-Taschenkalender 2016, herausgegeben von Michael Braun. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2015. ISBN: 978-3-88423-500-3. S. 152.
[2] Tibet – Sky Burial https://rheumatologe.blogspot.com/2022/08/tibet-sky-burial.html
[3] „Am nächsten Augustmorgen bin ich dann zu Fuß, mit Straßen- und S-Bahn glücklich in Berlin-Steglitz und zur Freude meiner Eltern gelandet, die ich auch erst wieder suchen mußte, denn Vater war auf dem Postamt und Mutter war in der 'Alexanderquelle' in Steglitz Schöneberger Straße / Ecke Holsteinische Straße, wo sie als Aufwartefrau in diesem Lokal tätig war. Frau Alexander wohnte unter uns in der Feuerbach Straße 8 [3a]. Es war jedenfalls ein ganz herzliches Wiedersehen, weil meine Eltern ja monatelang nichts mehr von mir gehört hatten. Meine Ankunft war der 18.08.1945.“ Dipl.-Ing. Gerhard Kirsch, Privatbesitz.
[3a] Kann man hier auf der rechten Seite sehen. Es ist das Haus mit den Erkern und Balkonen. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stra%C3%9Fen_und_Pl%C3%A4tze_in_Berlin-Steglitz#/media/Datei:120406-Steglitz-Feuerbachstra%C3%9Fe.JPG
[3b] Zu [3a] und [2] paßt auch „Die makabere Meise“ - https://rheumatologe.blogspot.com/2020/09/die-makabre-meise.html
[4] Die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Bonnies Ranch im Berliner Volksmund) https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik
PS. Vielleicht regte mich auch Marcel Proust an, denn ich las „Die Welt der Guermantes“ vor etwa vier Wochen.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Originaltitel: À la recherche du temps perdu). Das Werk erschien zwischen 1913 und 1927, teilweise posthum. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1964. Band 5: Die Welt der Guermantes, S. 107. (Oder die Frankfurter Ausgabe in drei Bänden von 2017, Übersetzung von Eva Rechel-Mertens; ISBN: 978-3518468302.)
PPS. Beide Fotos habe ich 2012 gemacht.
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