Tuesday, March 14, 2023

K. und die Backsteinkirche

K. war ohne ein festes Ziel losgelaufen. Unvermittelt fand sich in einer der Vorstädte wieder und überblickte einen Platz, auf dem zweimal in der Woche Markt gehalten wurde, wie er auf einem Parkverbotsschild ablesen konnte. Auf der rechten Seiten lagen eine Metzgerei, die Bäckerei und ein Kiosk mit Lotto- und Toto-Annahme. Auf der gegenüber liegenden Seite war aus einem Lebensmittelgeschäft ein kleiner Supermarkt geworden, jedenfalls dachte er sich das. An der Kopfseite erblickte er eine große Backsteinkirche; roter Backstein, nicht gelber Klinker. Die Häuser waren alle nur zwei oder drei Stockwerke hoch; sie stammten offensichtlich aus verschiedenen Phasen eines längst vergessenes Baubooms. Und alle waren sie grau. K. fiel es erst jetzt auf, daß auch die Backsteinkirche nicht mehr rot sondern angegraut war.

K. ging weiter in Richtung Eingang, langsamer und die Bilder stärker in sich aufnehmend als zuvor. Auch nachdenklicher. Er sah einige Mahonien-Sträucher an den Seiten des Kircheneingangs. Da erinnerte er sich an die Anlagen zwischen Kirche und Schule in dem Viertel, in dem er aufgewachsen war. Die beiden Anlagen maßen jeweils vielleicht 12x30 Meter, und zwischen Häusern und Anlagen war ein festgestampfter Weg, in den die Kinder Kuhlen mit Stöcken eingegraben hatten, damit sie mit Murmeln und Klickern spielen konnten. Aber deswegen dachte er gar nicht daran. Er konnte sich gerade daran erinnern, wie sie als Kinder auf einer der Flächen zwischen den Mahonien so lange Fußball gespielt hatten, bis dort kaum mehr Sträucher wuchsen. Der Unterschied zwischen den beiden Anlagen war ihm auch noch einige Jahre später aufgefallen; schon als er noch auf der Realschule war, aber auch noch später als Erwachsener, wenn er eben bei Besuchen der Eltern dort parken mußte. Er fand nur noch den von Jungenfüßen fest gestampften Boden und ganz wundersam war Gras gewachsen. Die Spuren des Fußballspiels waren getilgt. Mehr als einmal hatte er sich über zwei Dinge gewundert. Zum einen wunderte es ihn, daß Gras wachsen konnte. Und zum anderen, daß man keine neuen Mahonien angepflanzt hatte, wenn doch die Jungs nicht mehr Fußball spielten. Wahrscheinlich war es die Phase, in der Jungs nicht mehr Fußball spielten und die Mädchen noch nicht angefangen hatten, Fußball zu spielen. Mittlerweile war es bestimmt so uncool, daß weder Mädchen noch Jungs Fußball spielen wollten, jedenfalls nicht in den Anlagen. Man hätte man wieder Mahonien-Sträucher pflanzen können, stattdessen wuchsen Gras und Unkraut auf dem festgetretenen Boden. Der Boden vor der Kirche wirkte ebenso festgetreten. Es lagen Zeitungen, Einwickelpapierchen, Mund-Nase-Masken, eine Coladose und Hundekot neben den Sträuchern. Das wenig Grün vor dem Eingang der Backsteinkirche wirkte ungepflegt – so ungepflegt wie er selbst, vergaß K. sich einzugestehen.

K. überlegte nun, was, wenn er nun Beichten wollte. Interessanterweise dachte er gerade an das Beichten, obwohl er doch evangelisch aufgewachsen war. Ja, er war getauft worden, ging zur Konfirmation, hatte sich aber später entfremdet. Vor fast 30 Jahren, als junger Mann war er aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Aber er fühlte sich immer noch evangelisch. Die Eltern waren bis in den Tod evangelisch. Sie waren regelmäßig zum Gottesdienst gegangen, obwohl sie darüber nicht gesprochen hatten. Ob es ihnen peinlich gewesen war? Aber weder ihm noch seiner älteren Schwester hatten sie Vorschriften gemacht. K's ältere Schwester ging immer noch in die Kirche, sie war sogar sehr engagiert. Aber sie sprachen nicht darüber. Er hatte mit der Kirche nichts am Hut. Dachte er immer. Jetzt aber, jetzt fühlte er sich aber doch wieder evangelisch. Sollte K. wirklich in die Kirche hineingehen? Oder sollte er es sein lassen?

Nach diesem Zögern ging er doch in die Kirche hinein. K.griff die Frage, wenn er jetzt beichten wolle, wieder auf. Wer soll denn eigentlich die Beichte abnehmen? Wahrscheinlich ist nur alle 14 Tage von 11:30 Uhr bis 11:45 Uhr Beichte, weil der Pfarrer sonst zum Beispiel in einer 30 Kilometer entfernten Kirche zu einem Arbeitsausschuß muß. K. überlegte weiter, was er in der Kirche machen sollte. Er hatte ja noch nie gebeichtet und gebetet schon lange nicht mehr. Was hatte er im Leben erreicht? Wollte er jetzt eine Lebensbeichte ablegen? Er hatte zehnmal die Encyclopedia Britannica verkauft. Aber das lief schon lange nicht mehr. Davor hatte er Staubsauger verkauft. Noch schlimmer. Vorsichtig ging er durch die Kirche. Er könnte sich wenigstens die Kirche anschauen. Er schaute hoch auf die Glasfenster, die sogar figürlich gestaltet waren, den Altar, die Orgel, die Bänke und dann auch noch auf den Beichtstuhl. Eigentlich müsste man es Beichtkammer nennen. Das kam ihm vor wie ein früher Datenschutz, aber man nannte es wohl Diskretion.

Und wie er so weiter in die Kirche hinein ging, kam plötzlich hinter dem Altar der Pfarrer hervor. Was K. nicht wusste: der Pfarrer war ein leidenschaftlicher Marienverehrer. Hinter dem Altar hatte er sich einen kleinen abgeschlossenen Teil hergerichtet, wo er nur Maria verehrte. Wie er sich so wunderte, daß plötzlich der Pfarrer da war, da ging es ihm durch den Kopf, daß der schon immer da war. Der Pfarrer sprach ihn an. Was er denn hier suche? Und er sagte: „Ich sehe doch, daß Sie etwas bedrückt, mein Sohn.“ Und K. antwortete: „Ich weiß nicht, ob mein Sohn in die richtige Anrede ist; sie ist weder zeitgemäß, noch bin ich in der katholischen Kirche. Ich war in einer unschuldigen Zeit einmal evangelisch.“

Daraufhin schwiegen beide. K. überlegte, ob er es ihm sagen sollte? Daß war einen Menschen tot gefahren und Fahrerflucht begangen hatte? K. dachte: „Vielleicht finde ich hier einen Menschen, den das interessiert.“ An Vergebung dachte er dabei überhaupt nicht. 

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