Man mag sich jetzt zu recht fragen, wie ich jetzt auf das Judasevangelium komme. Und was soll die Frage, ob wir dieses Evangelium überhaupt benötigen? Das ist leicht zu erklären. Ich habe eine sehr alte Ausgabe der deutschen Version von National Geographic gelesen, in dem über das Judasvangelium berichtet wurde [1]. Und dann kam dazu, daß ich mich wieder einmal an meinen alten Kunstlehrer Heiner Schlesing [2] erinnert habe, den ich auch hier schon vorgestellt hatte. Herr Schlesing hatte mir und natürlich auch denen in der Klasse, die zuhörten, während des Kunstunterrichts nahegelegt, die Apokryphen zu lesen. Die apokryphen Schriften bestehen nicht nur aus Evangelien, sondern auch Briefe und weitere Texte des Alten und des Neuen Testaments sind dort zu finden. Das habe ich auch getan [3]. Heiner Schlesing hatte sich sehr mit dem Christentum auseinandergesetzt und Szenen aus den Evangelien in seine Bildsprache [2] übersetzt.
Evangelium oder griechisch εὐαγγέλιον (eu-angélion) bezeichnet die Heilsbotschaft selber, steht aber dann zunächst für die vier kanonischen Texte der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Die Evangelien sind Erzähltexte. Das Evangelien nach Markus ist das älteste. Bei Markus steht im Vordergrund das Wirken des Gottessohnes. Und schnell („sofort, sogleich, stracks, augenblicklich“, „nullkommaplötzlich“, „dalli, dalli“) muß es bei Markus gehen, so übersetzt Hans Conrad Zander εὐθύς [4]. Das Matthäusevangelium steht als erstes in der Bibel. Zusammen mit Lukas greift er auf eine weitere Quelle; zudem ordnet er seine Geschichte etwas anders und versucht etwas Historie hineinzubringen. Bei Lukas, der auch als Autor für die Apostelgeschichte gilt, kommt er selbst als Person im Stil des Icherzähler vor. Insgesamt sind diese drei Evangelien vergleichbar; man nennt sie die synoptischen Evangelien. Der Vergleich zum Johannesevangelium fällt viel schwieriger, auch wenn es Überschneidung gibt, aber längst nicht so viele wie bei den synoptischen Evangelien. Das Johannesevangelium ist später entstanden und hat dadurch eine andere Intention. Es beginnt mit der Inkarnation des Wortes. Mit diesen vier Evangelien haben wir bereits eine vielschichtige Grundlage für den christlichen Glauben. Benötigen wir weitere?
Ich hatte bereits während der letzten Jahre der Schulzeit die Apokryphen [3] gelesen. Ehrlich gesagt, sie sind enttäuschend. Sie bringen nichts Neues. Allerdings zeigen sie, daß die Christenheit bereits ziemlich rasch in sehr viele Strömungen zerfallen war. Es findet sich viel gnostisches Gedankengut in verschiedenen apokryphen Evangelien. Damit sind sie meiner Meinung nach zu recht ausgeschlossen worden. Andererseits unter. Wir gewinnen allerdings Auskünfte über das Leben insbesondere im 2. Jahrhundert n. Chr. Der Wikipedia-Artikel listet etwa 25 apokryphe Evangelien [5] auf, der überwiegende Teil wird als gnostisch gekennzeichnet.
Was heißt nun Gnostik oder besser Gnosis; es kommt von altgriechischen γνῶσις gnō̂sis „[Er-]Kenntnis“ bzw. „Wissen“ [6]. In der Gnosis sind Ideen verankert, die dem christichen Glauben widersprechen, auch wenn man einige Aspekte der Gnosis im Christentum wiederfinden kann. In der Gnosis wird die Welt durch eine Emanation des transzendenten Gottes, den bösen Demiurgen, geschöpft. Jesus Christus wäre demnach auch keine Inkarnation und hätte auch nicht am Kreuz gelitten. Die Erlösung erlangt der Menschen nach der gnostischen Lehre durch die Erkenntnis seiner eigenen Göttlichkeit. [7]
Das Judasevangelium wird bereits im Jahr 180 n. Chr. von Irenäus von Lyon [8] erwähnt und wird auf etwa auf das Jahr 160 n. Chr. datiert. Die Schrift stammt nicht von Judas – wie auch? Nach der Apostelgeschichte des Lukas geschah folgendes: „Mit dem Lohn für seine Untat kaufte er sich ein Grundstück. Dann aber stürzte er vornüber zu Boden, sein Leib barst auseinander und alle seine Eingeweide quollen hervor.“ [9] Das Judasevangelium blieb aber bis in die 1970iger Jahre verschwunden. Der aufgefundene Papyrus-Codes stammt aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. und ist lückenhaft durch unsachgemäße Lagerung. In mühevoller Kleinstarbeit konnten aber 90% des Textes rekonstruiert werden. Es handelt sich um eine koptische Übersetzung aus dem Griechischen. In einem späteren Artikel von National Geographic liest man: „Das Judasevangelium ist ein Artefakt der Sethianer, einer der konfrontativen christlichen Sekte aus dem 2. Jahrhundert.“ [10]
Das Judasevangelium erklärt, daß Judas mehr Erkenntnis als die anderen Jünger besaß und deshalb mit dem Verrat von Jesus selbst beauftragt worden war. In diese Denkfalle kann man schnell tapsen, denn heißt es nicht: „Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald!“ [11] Andererseits ist auch schnell eine Parallele des Johannesevangeliums zur Gnosis hergestellt. Der Lohn des Judas wäre, daß die Welt ihn ewig hassen werde, aber als Erleuchteter ginge er ins göttliche Reich ein. Der jüdisch-christliche Gott kommt als nachrangige Gottheit mit einer mangelhaften Schöpfung schlecht weg.
Benötigen wir dieses Evangelium? Theologisch überhaupt nicht, denn es gibt keine neuen Daten über Jesus oder Judas, sondern sie gibt uns Anhaltspunkte über die Zerrissenheit des christlichen Glaubens im 2. Jahrhundert. Und wer die neuste Version lesen will, kann dies hier [12] tun. Ich allerdings mag nicht.
Links und Anmerkungen:
[1] Der Text ist auf Englisch verfügbar: Stefan Lovgren: Hidden for 1,700 years, the Gospel of Judas now offers a surprising take on Christianity’s most reviled man. Published April 6, 2006. https://www.nationalgeographic.com/science/article/lost-gospel-judas-revealed-jesus-archaeology
[2] „Heiner Schlesing wurde 1901 geboren und starb 1992. Anfang der 20iger Jahre studiert er Kunstgeschichte und Archäologie bei Prof. Heinrich Wölfflin in München. 1924/1925 bereiste er Italien, 1925-1927 den Vorderen Orient, 1928-1933 begleitete er u.a. den Völkerkundler Frobenius in die Südsee, bleib drei Jahre dort und später noch ein Jahr in New York. 1936-1939 folgte eine Expedition durch Zentralafrika. Zwischen 1956-1972 war er als Kunsterzieher in Köln am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium in Köln-Buchheim und am Rhein-Gymnasium in Köln-Mülheim tätig. An weiteren Orten der Inspiration sind Sizilien, Griechenland, Bagdad, Beirut, Indien mit Neu Delhi, Kaschmir, Benares, Singapur, Java, Sydney, Bora Bora, Tahiti, USA noch zu nennen.“ [2a] Weitere Bilder in [2b] und [2c]. Noch zur Ausstellung 2019: „Ein eigener Bereich ist die Christologie. Nach Christiane van Haaren ist das Bild „Jesus auf dem See Genezareth“ das Highlight. Mein eigenes Highlight ist dabei die Madonna mit dem Eichhörnchen, da das Bild Anlass für eine Aufgabe im Kunstunterricht war; andererseits könnte man das genauso von dem Bild „Jesus auf dem See Genezareth“ sagen.“ [2a]
[2a] https://rheumatologe.blogspot.com/2019/08/retrospektive-von-heiner-schlesing-im.html
[2b] Retrospektive von Heiner Schlesing im PAN Kunstforum in Emmerich „revisited“ https://rheumatologe.blogspot.com/2019/11/retrospektive-von-heiner-schlesing-im.html
[2c] Ausstellung „Heiner Schlesing“ in Rees (2014) https://rheumatologe.blogspot.com/2014/04/ausstellung-heiner-schlesing-in-rees.html
[3] Welche Bücher ich mir damals ausgeliehen hatte, weiß ich nicht mehr. Ich hatte später diese beiden gelesen:
Erich Weidinger: Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel. Pattloch Verlag, München 1990. ISBN 9783629913197.
Alfred Pfabigan: Die andere Bibel mit Altem und Neuem Testament.
EichbornVerlag, Frankfurt 1991. ISBN: 3821844132.
[4] Hans ConradZander: Ecce Jesus. Ein Anschlag gegen den neuen religiösen Kitsch. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992. ISBN: 9783498076573. S. 27-28. Zander zählte 42 mal das Wort εὐθύς im Markusevangelium.
[5] Man kann sich hier einen Überblick verschaffen: https://de.wikipedia.org/wiki/Apokryphen
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gnosis
[7] Das ist nicht erschöpfend und in der Kürze sogar kritisch, aber mehr mag ich dazu nicht schreiben.
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Iren%C3%A4us_von_Lyon
[9] https://www.bibleserver.com/EU/Apostelgeschichte1%2C15-20 Apo 1,15-20 insbesondere Vers 18
[10] Simon Worrall: Zwischen Fakt & Fiktion: Auf der Suche nach den 12 Aposteln
Historische Belege für die Existenz der 12 Apostel sind rar gesät – und einige widersprechen den christlichen Glaubensbekenntnissen. Veröffentlicht am 17. Dez. 2019. Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2019/12/zwischen-fakt-fiktion-auf-der-suche-nach-den-12-aposteln Grammatik folgt dem Originaltext!
[11] https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/JHN.13/Johannes-13 Joh 13,18 Zugegeben, wenn man den ersten Teil des Verses liest, gibt es keinen Zweifel am Verrat.
[12] Rodolphe Kasser, Marvin Meyer, Gregor Wurst (Hrsg.): Das Evangelium des Judas aus dem Codex Tchacos. National Geographic, Washington D.C., White Star Vlg., Wiesbaden 2006, ISBN 3-939128-60-0.
OT: 12!
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