Kapitel 2 – Rückzugsorte
Nach der Einleitung zum WinzHaus [1] möchte ich nun etwas tiefer in die Materie gehen, aber noch nicht zu sehr in Einzelheiten verfangen.
Kemenate
Als ersten Rückzugsort habe ich mir Kemenate ausgesucht, vielleicht weil ich eine romantische Ader habe. Der Begriff Kemenate kommt vom lateinischen Wort caminata, das ist ein beheizbarer Raum, und wurde im Spätmittelalter geprägt und weitete sich „von der Wärmestube generell auf Wohnbauten aus Stein aus, die über solche Stuben“ verfügten [3]. In den Burgen des Mittelalters stand der Begriff besonders für ein Frauengemach. Man versteht unter Kemenate umgangssprachlich einen „intimen kleinen Raum, den jemand als seinen eigenen persönlichen Bereich hat“ [3]. Meine Mutter hatte eine Kemenate.
Es ist oft erschreckend, daß Mütter keine Rückzugsort haben. Die Kinder haben ihr Zimmer. Der Vater geht notfalls in die Garage oder den Keller, wohin aber zieht sich die Mutter in einer Mietwohnung zurück? In diesem Zusammenhang hatte ich einmal über eine Frau geschrieben: „Eine Übung bestand darin, sich einen Ort der der Stille vorzustellen. Nach der Übung befragte eine der Patientinnen eine andere, die beiden hatten sich bereits angefreundet: „Wie war es denn bei dir?“ Vordergründig eine sehr harmlose Frage. Aber die betreffende Person wurde in ein tiefes Loch katapultiert. Was war passiert? Sie hatte sich keinen Ort der Ruhe vorstellen können. Überall war Trubel und sie fand nicht, wo sie sich hätte hin zurückziehen können. Sie hat aber später die Übung dann doch noch zu Ende bringen können. Denn irgendwo kann jeder seinen Ort der Ruhe finden.“ [4]
Kinderzimmer
Die Zimmer pubertierender Jugendlicher sind in der Regel off-limit. Und damit sind sie eben auch Rückzugsorte. Manchmal muss man sich aber auch den Ort schaffen, besonders, wenn man sich das Zimmer mit zwei Brüdern teilen muss. Ich spielte Violine … so ähnlich wie Sherlock Holmes … my home is my castle, mein Rückzugsort; aber vielleicht mache ich gerade das Violinenspiel von Sherlock Holmes schlechter als es war [5], meines war jedenfalls exzentrisch genug, um die Brüder aus dem Zimmer zu bewegen.
Zellen von Möchen und Nonnen
Gehen wir schon einmal einen Schritt weiter als die Zellen von Mönchen und Nonnen, die Zellen oder Häuschen der Kartäuser, die noch mehr Abgeschiedenheit ermöglichten. Die Kartäuser gehen auf den heiligen Bruno von Köln zurück [6]. Wahrscheinlich kennen die meisten das Getränk Chartreuse, das seinen Namen von den Kartäusern hat, denn die haben den Kräuterliqueur erfunden. Die Chartreuse aber ist eine einsame Gebirgsgegend bei Grenoble (Frankreich), in der Bruno den Orden gegründet hat. Die Kartäuser leben in kleinen Häusern, die mit dem Kreuzgang und der Kirche verbunden sind; hinter der kleinen Wohnstätte lagen Werkraum und Garten. Auf dem Athos existiert die Siedlungsform der Skiten (griechisch σκήτες), wobei in einer der Formen „Kelliá (griechisch κελλιά ‚Zellen‘), Hütten für einen Bewohner“, rund um einen klösterlichen Zentralbau angelegt sind [7]. Schon früh hatte man also einen Sinn im Wechsel von Umgang und Rückzug von Menschen erkannt. Das Begriff Hütte für einen Bewohner kommt dem WinzHaus sehr nah.
Einsiedler
Die Einsiedler kommen noch vor den Nonnen und Mönchen. Die Eremiten wollten Ablenkungen vermeiden, um so in einfachen Lebensumständen zu beten und zu meditieren [8]. Dies begann im 3. Jahrhundert mit den Wüstenvätern (und Müttern [9]!) und wurde bis ins Spätmittelalter praktiziert. Es gingen zeitweise so viele Eremiten in die Wüste, daß geregelt werden mußte, wie nah die Zellen (kelliá - κελλιά) untereinander gebaut werden durften [10].
Mir kommt Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) in den Sinn, der von 1417 bis 1487 in der Schweiz lebte. Er war Bergbauer, Politiker, Richter und Soldat, bis er sich als Einsiedler zurück zog [11]. Vielleicht kommt mir Bruder Klaus in der Sinn, da die Kapelle in Mechernich-Wachendorf seinen Namen trägt [12] und die habe ich auch schon mehrfach erwähnt. Bruder Klaus machte die gleiche Erfahrung wie die Wüstenväter [13], nämlich daß man sich gar nicht so weit zurück ziehen kann, als da nicht Menschen kämen, die etwas von einem wollen. Nicht jeder ist so zurückhaltend wie Horst Leisering, der häufig Bargfeld besuchte, aber Arno Schmidt nicht stören wollte [14].
Höhle oder Grotte
Höhlen wären als Rückzugort geeignet, aber … wo kann man denn eine dafür benutzen? Die Lourdes-Grotten, die ich z.B. in der Eifel besucht habe [15], liegen so nah an Straßen, daß sie sich kaum eignen. Die Mannberghöhlen bei Nettersheim sind mehr Eingänge für Fledermaushöhlen [16]. „Ein Besuch der Kakushöhle lohnt sich“ [17] schrieb ich einmal – davon rücke ich auch nicht ab – nur sich zurück ziehen kann man nicht. Und die Speleologie wird in kleinen Gruppen durchgeführt. Wer keine eigenen, abschließbare Höhle sein eigen nennt, der sollte diese Option rasch vergessen.
Insel
Auf die Insel im Pazifik werde ich noch zu sprechen kommen, vielleicht auch auf Tom Neale [18], der insgesamt 16 Jahre auf der Insel Anchorage im Atoll Suwarrow lebte. Das mit der Insel ist schwierig zu realisieren, ist aber prizipiell ein sehr guter Rückzugsort. Zur Einstimmung vielleicht dieses Rätsel/Koan [19]: „Eine einsame Insel im Pazifik. Ein Mann geht im Kreis um die einzige Palme. Natürlich hat er Unrecht!“
Links und Anmerkungen:
[1] https://rheumatologe.blogspot.com/2024/01/das-winzhaus-einleitung.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kemenate
[3] https://www.duden.de/rechtschreibung/Kemenate
[4] https://rheumatologe.blogspot.com/2023/10/ruckzugsorte.html
[5] "His powers upon the violin ... were very remarkable but as eccentric as all his other accomplishments." https://conandoyleestate.com/news/was-sherlock-holmes-really-any-good-at-playing-the-violin
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Kart%C3%A4user
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Athos
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Einsiedler
[9] Ich denke an Maria Aegyptiaca oder Maria von Ägypten, denn sie war so eine Heilige und Wüstenmutter, die es in sich hat [9a]. Sie wird als Prostituierte bezeichnet, die in Jerusalem ihre Bekehrung erfuhr. Sie ging in die Wüste und lebt dort nackt, nur von ihren Haaren bedeckt, erhielt 46 Jahre später die Kommunion von dem Mönch Zosimas zum Osterfest und hatte sich gewünscht, die Kommunion im nächsten Jahr erneut zu erhalten. Zosimas hielt Wort, und Maria wandelte ihm auf dem Jordan entgegen. Nach der Kommunion wandelte sie zurück. Zosimas fand sie ein Jahr später tot. Sie hatte die Bitte in den Sand geschrieben, von ihm begraben zu werden. Der Leichnam war nicht verwest. So weit die Legende.
[9a] https://de.wikipedia.org/wiki/Maria_von_%C3%84gypten Wikipedia hat die Kurzversion der Geschichte; sie liest sich bei Hans Conrad Zander aber viel interessanter; siehe unter [9b].
[9b] Hans Conrad Zander: Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüstenväter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. ISBN: 3-462-02982-7. S. 115 ff.
[10] Hans Conrad Zander a.a.O. S. 21 ff.
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Niklaus_von_Fl%C3%BCe
[12] „Die Bruder-Klaus-Feldkapelle ist eine privat gestiftete und 2005 bis 2007 erbaute römisch-katholische Kapelle oberhalb der Ortschaft Mechernich-Wachendorf, am Nordrand der Eifel.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Bruder-Klaus-Feldkapelle
[13] Hans Conrad Zander a.a.O.
[14] Nina Wittemer: „Die Leser=Post hält unvermindert an“. Die Ausstellung „'Leser'? - achduliebergott“ in der Arno Schmidt Stiftung gibt Einblicke ins Archiv. In: Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts. Lfg. 500 / 18. Januar 2024. S. 37-40.
[15] https://rheumatologe.blogspot.com/2021/05/die-lourdes-grotte-in-rohren.html und https://rheumatologe.blogspot.com/2021/05/die-olberg-grotte-von-rohren-widdau.html sowie vielleicht noch https://rheumatologe.blogspot.com/2021/09/die-lourdeskapelle-in-keldenich.html [16] https://rheumatologe.blogspot.com/2020/09/die-mannenberghohlen-bei-nettersheim.html
[17] https://rheumatologe.blogspot.com/2020/05/ein-besuch-der-kakushohle-lohnt-sich.html
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Tom_Neale
[19] https://rheumatologe.blogspot.com/2017/09/eine-einsame-insel-im-pazifik.html
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