Thursday, January 12, 2012

Geschichten von K. / Der Stollen.


K. fand sich in einem Stollen wieder. Von der Decke tropfte ein fahles, gelbes Licht herab auf einen glatten, staubigen Boden. Wände und Decke waren aus einem glanzlosen Metall gearbeitet, das in regelmäßigen Abständen zusammengenietet war. Er trug einen Anzug auf der bloßen Haut, der von erdiger Farbe war.

K. reihte sich ein in einen Strom von Menschen, die alle wortlos in eine Richtung wanderten. Alle, Männer wie Frauen, trugen eine ähnliche Kleidung wie er, aber jeder Anzug und jedes Kostüm hatte eine andere Nuance der erdigen Farbe. Wahrscheinlich waren alle KleidungsStücke in der Farbe einzigartig, aber das ließ sich im DämmerLicht nur erahnen. Unter den Menschen, die er um sich herum sah, waren keine Alten und auch keine Kinder. Manchmal räusperte sich eine der Gestalten oder hustete.

Die Menschen bewegten sich langsam mit einem Hauch von Erschöpfung und Resignation. Kreuzungen kamen und Ströme teilten und vermengten sich. Nirgendwo waren HinweisSchilder angebracht. Auch konnte K. nicht entdecken, warum er oder die anderen die Richtung wechselten. Wohin führte die Wanderung? Woher kamen er und die anderen Wanderer? In den leeren Gesichtern fand er keine Antwort, nur zähes Schweigen.

Von TropfSteinHöhlen her kannte K. es, daß sich um die Lampen herum Moose, Farne oder zumindestens doch Algen oder Flechten ansiedelten, aber hier ließ sich kein Grün ausmachen. Nur StahlGrau, ErgGrau, StaubGrau und der erdige Ton der Kleidung im Licht der tranigen Lampen. Er sah auf die Gesichter und Hände, die UnterSchenkel von Frauen und erblickte nur einen staubigen, erdigen Ton.

K. sprach die Menschen neben ihm an und bekam keine Antwort; einer legte der ZeigeFinger auf den Mund, ein anderer wurde erst gar nicht wach. Viele Stunden schon mochte er gegangen sein, bevor K. die erste Pforte sah, unscheinbar in der Wand.. Ein Wächter stand davor, gekleidet in der Farbe der StahlWände. Zuerst hatte K. ihn völlig übersehen. Vielleicht war er schon an anderen Pforten vorbei gekommen. Nun sah er häufiger solche Pforten und es erschien ihm, als würden manche Gestalten schneller gehen, während andere langsamer wurden. K. wollte einmal stehenbleiben, aber der Strom riß ihn mit sich. Dann wieder sah er, wie jemand von einem Wächter angesprochen wurde, jedoch handelte es sich eher um ein kurzes Wort, einen Befehl, einen Hinweis durch eine KopfBewegung. Der Wächter gab danach die Pforte für einen AugenBlick um eine Spalte frei und die Gestalt wurde vom Dunkel aufgesogen. Einmal sah er einen Mann mit blauen ÄrmelSchonern und nach vielen Stunden eine Frau, die eine blaue Schürze über ihrer Kleidung trug.

K. wunderte sich über die TatSache, daß niemand zu essen schien; geschlafen wurde hingegen im Gehen. Auch er schlief bisweilen ein und ließ sich vom Strom seinem geheimnisvollen Ort näher bringen.

Im trüben Licht einer Lampe bemerkte K. einen Wächter, der ihn anstarrte. K. wertete das als Zeichen, daß er zu ihm kommen sollte und ihn ansprechen konnte. Doch bevor er eine Frage stellen konnte, wies ihn der Wächter durch die Pforte, die sich hinter ihm verschloß.

K. nahm eine brennende HandLampe, di in einer Halterung steckte. Sie leuchtete ihm den Weg durch einen rohgehauenen Gang, der sich durch kohleschwarzes Gestein windete, gerade groß genug, um ihn durchzulassen. Vielleicht war er der erste Mensch aus dem Stollen, der sich hier entlangtastete. Möglicherweise würde ihn nach ihm niemand mehr benutzen. Er ging nur wenige Minuten, jedoch der Hauch der Ewigkeit legte sich um ihn.

K. begann seine Arbeit. Er mußte mit einem Griffel Striche auf eine SchieferTafel ritzen, jedesmal, sobald ein Eimer mit Kohle aus einem Loch an ihm vorbeigezogen wurde. Stundenlang malte er seine Striche, wobei sechs Striche durch eine siebten QuerStrich verbunden wurden -: //////. Er wußte, daß er sich weder verzählen noch aufhören durfte, damit er seinen Lohn bekam.

Unter ihm und über ihm zählte sicherlich andere und malten ebenfalls Striche auf SchieferTafeln. Glücklich, wer für diese verantwortungsvolle Tätigkeit auserwählt worden war.

Nach Stunden oder Jahren bekam K. eine Suppe und einen Kanten Brot. Ein Lager aus einem Sack stand für ihn bereit. Er legte sich hin und schließ sofort ein. Ein Traum von Gras und Bäumen endete nach unbestimmter Zeit. Im Stollen und seinen NebenGängen und Pforten schien die Zeit ohne Bedeutung. Ob K. alterte, wußte er nicht zu entscheiden.

Seine Arbeit wiederholte sich von einer SchlafZeit zur anderen. Träume kamen und gingen, doch meist vergaß K., auf seine Träume zu achten. Er verlor sie einfach in einem Loch von Erwachen.

Dann stand einer der Wächter vor ihm, der eine Tür in der Schwärze der Wand öffnete und ihn hineinwies. K. hatte diese Tür niemals zuvor bemerkt, obwohl er vor jeder SchalfZeit seine Umgebung musterte. Wieder ging er, die Häfte der Ewigkeit durchmessend, in einem schwarzen Gang, der ihm enger als derjenige erschien, der ihn zum Ort der Zählungen und Notationen auf der SchieferTafel geführt hatte. Er gelangte zu einem FelsenDom, dessen Decke nicht zu ergründen war. Unten saßen Männer und Frauen an langen Tischen. Die Männer trugen blaue ÄrmelSchoner und die Frauen blaue Schürzen.

Manchmak blickte K. auf die Frau, die ihm gegenüber saß. Sie mußte Kontakt zu anderen haben, die höher in der Hierarchie standen; das sah K. ihr an. K. nannte seinen Namen und sie antwortete: „Lena.“ Dies sollte ihr einziges Gespräch für Tage bleiben. Inzwischen kamen große Mengen von SchieferTafeln auf den Tisch und sie zählten die Striche zusammen und übertrugen die Summe in SeptimalZahlen auf die entsprechenden BerichtsBögen.

Schließlich fragte K. Lena, was mit den Berichten geschehen mochte. Er stellte die Frage eher, um etwas zu sagen, als daß er eine gescheite Antwort erwartete. Aber ein schwarzgekleideter Aufseher bemerkte seine Frage.

K. lief wieder durch den Stollen. Verstohlen blickte er nach den staubigen Gestalten, die schlafend ihren Weg gingen. Mit seinem OrtsSinn versuchte er, Richtungen und Entfernungen abzuschätzen und zu einem Plan des Stollens zu vereinen, aber er versagte. Zu weitläufig war der Stollen mit all seinen Windungen, Kreuzungen und sich vermischenden MenschenStrömen. Unter Umständen könnte er sich sein ganzes Leben nur in einer Richtung bewegen und weder Anfang noch Ende erreicht haben.

An einer Kreuzung sah er Lena aus ziemlicher Nähe, jedoch unerreichbar fern. Sie hatte ihre Schürze abgeben müssen, wie auch er ohne ÄrmelSchoner durch den Stollen lief. Trotzdem erinnerte er sich, früher schon Männer mit ÄrmelSchonern im Strom der Wanderer gesehen zu haben. Der Gedanke erschien ihm jetzt als geradezu widersinnig. K. rief nach Lena, und konnte ihren Blick gerade noch aus einer KopfDrehung auffangen, bevor sie in eine andere Richtung getrieben wurde, von den anderen erdGrauen Gestalten mitgerissen.

Wieder wurde K. von einem Wächter zu einer Pforte hineingelassen. Er zählte wieder Eimer und ritzte gewissenhaft mit dem Griffel seine Striche auf die SchieferTafel. Er empfand diese Aufgabe als Rehabilitation, aber auch als Prüfung.

Nach einiger Zeit zwischen Suppe, Träumen auf dem HanfSack und dem nie enden wollenden Zählen, wurde er wieder durch einen engen Gang in einen FelsenDom bestellt. Er war sogar noch etwas größer als der vorherige. Er hatte die ÄrmelSchoner übergestreift und setzte sich in die Reihe an einem langen Tisch, um wieder die hereinkommenden SchieferTafeln zu bearbeiten. Ihm gegenüber setzte sich gleichzeitig Lena hin, die auch wieder eine blaue Schürze trug.

Nur hin und wieder trafen sich ihre Blicke für SekundenBruchTeile. Das Lächeln verbargen sie in ihren Herzen, die immer noch schlugen, manchmal leicht und manchmal heftiger. Sie waren noch nicht durch die Monotonie versteinert. Und doch -: jeder Blick war eine lange Geschichte, ein Gespräch, ein helles Lachen, eine LiebesErklärung.

Wie glücklich konnte doch das Leben im Stollen sein.

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