K. schaut auf die gerade Linie, die er entlang gehen soll. Alle 50 bis 100 Schritte soll er an einen Pfahl ein Kreuz wie ein X. ritzen. Er muss den ganzen Tag laufen und dann kommt ein Unterstand mit einem Bett und einer Mahlzeit, die Abendessen und Frühstück sein soll*. Er muß mit dem ersten Licht aufstehen und gehen, sonst schafft er es nicht. Er könnte sich in der Dunkelheit verirren, denn man kann dann die Linie nicht mehr sehen und Pfähle stehen überall herum, sie sehen alle gleich aus und bilden auch keine markanten Gruppen. Wenn K. von der geraden Linie abkommen würde, würde er im irgendwo landen und die Linie nicht wiederfinden. Also hält er sich an seinen Auftrag und ritzt X um X auf die Pfähle. Nie hatte er bislang ein anderes Zeichen gesehen. Dann aber sieht er ein Z auf einem Pfahl, in den er gerade sein X ritzen wollte. K. sucht sich einen anderen Pfahl aus. Dann sind für lange Zeit die Pfähle frei von Z oder anderen Zeichen. Schließlich kommen Tage, an denen K. viele andere Zeichen sieht, auch mehrere an einem Pfahl, wie Z, Y, V, L, [ und T. Dann wieder immer nur eines der Zeichen ganz vereinzelt. K. schaut um sich, so weit der Blick in den Bereich neben der Linie in den Wald der Pfähle reicht, denn er willen derjenigen finden, die eines dieser Zeichen eingeritzt hatten. Aber er findet keinen. Schließlich nach langen Wochen sieht er ab und zu ein X. Zunächst ist K. nicht sicher, daß er diese Xe selbst eingeritzt hat. Ob ein anderer die Xe eingeritzt hatte? Aber dann sieht K. ein X, von dem er sicher ist, daß er es selbst eingeritzt hat. Er war also im Kreis gegangen, in einem riesigen Kreis, so daß er nicht gemerkt hatte, daß die gerade Linie ein Kreis ist. Aufgeregt folgt K. der Linie, er darf nicht verweilen, um zum Unterstand zu kommen. Er kann sich nicht entschließen, einfach umzukehren. Jetzt plant er, weiter zu gehen und die Unterstände zu markieren. Das hätte er schon längst machen sollen. Aber was soll er machen, wenn er herausfindet, daß es immer nur neue Unterstände gäbe? K. ist noch zufrieden, einen weitere Runde mit dem Ritzen von Xen in Pfähle zuzubringen. Eigentlich stimmt ihn das froh, ein Ziel zu haben.
* Anmerkung: Nur in Vereinszeitschriften oder Gemeindeblättern heißt es: Für das leibliche Wohl ist gesorgt; hier kann dieser Text nicht stehen.
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Blog von Dr. med. Lothar M. Kirsch / 祁建德 // Rheumatic Diseases / Fibromyalgia / Travels / Languages / Poetry
Tuesday, December 5, 2023
K. und die gerade Linie
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