Wednesday, May 24, 2023

Altargesteck am 23.05.2023 – Kafka in der Kirche

 



Vertraut den neuen Wegen war auch ein Lied des Gottesdienstes in der Auferstehungskirche / Kulturkirche Ost in Köln-Buchforst. Der neue Weg war ein experimenteller Literaturgottesdienst, der von Prädikantin Christine Winterhoff und Prädikant Hartmut Rößler initiiert und geleitet wurde. Er ging der Frage nach, an welchen Zielen wir uns ausrichten. Zugrunde lag die Parabel Vor dem Gesetz von Franz Kafka. Diese erzählt von einem Menschen, der ein einer glanzvollen Sehnsucht folgt, aber nicht weiterkommt.

Die Auferstehungskirche in Köln-Buchforst ist ein 1968 ein geweihter, evangelischer Kirchenbau, in dem ich konfirmiert 1968 wurde. Die Kirche wurde 1992 unter Einbeziehung der Hofbepflasterung unter Denkmalschutz gestellt und ist mittlerweile in der Trägerschaft Wohnungsbaugesellschaft GAG Immobilien, die den Standortes durch kulturelle Veranstaltungen fördern will [1]. Die Kirche haben wir in Buchforst gerne mit einem sinkenden Schiff verglichen, denn so kann man sie von außen sehen, innen aber strebt die Architektur von Georg Rasch und Winfried Wolsky einem Ziel zu und mittags bei Sonnenschein kann man eine Himmelsleiter sehen. Von diesem Effekt des Lichtes von oben lebt auch die viel später entstandene Bruder-Klaus-Kapelle bei Mechernich-Wachendorf, die vom Architekten Peter Zumthor entworfen wurde [2]. In eine Kulturkirche paßt sich ein experimenteller Literaturgottesdienst hervorragend ein.




Vor dem Gesetz [3], Türhüterparabel genannt, ist ein Text Franz Kafkas, der zunächst einzeln (1915) veröffentlicht worden ist, aber aus dem Roman Der Process stammt. Die Romane Der Process, Das Schloss und Der Verschollene (Amerika) sind alle Fragmente, die erst posthum veröffentlicht worden sind. Die kurze Parabel zeigt den Mann vom Lande, wie er Einlaß begehrt, nicht am Türhüter vorbeikommt, und damit lebenslang abfindet. Erst zum Ende seines Lebens fragt er, warum kein anderer Einlaß begehrt habe und der Türhüter sagt ihm, daß diese Pforte nur für den Mann vom Lande bestimmt gewesen war. Das, was hinter der Tür liegt, wird als Glanz beschrieben und kann als Labyrinth oder auch als Raum für Möglichkeiten gedeutet werden. Aber schon befinden wir uns in einem eigenen Labyrinth von Interpretationen. Die Surrogat-Handlungen (Bestechungsversuche) sollen nur die eigene Passivität überdecken, aber auch die Furcht vor dem ersten Schritt. Ist es wirklich ein Wagnis, gegen den Rat des Türhüters über die Schwelle zu treten? So sehr der Mann vom Lande sich auch danach sehnt, traut sich dennoch nicht, diesen Schritt zu gehen.

Wir sangen das Lied Da wohnt ein Sehnen tief in uns [4]. Ich hatte das Lied vor einigen Jahren schon einmal kurz erwähnt [5] und singe es zugegebenerweise gerne, auch auf Deutsch. Aber da wohnt ein Fragen tief in mir, ob man es nicht hätte anders übersetzen sollen. Sicherlich kann in uns ein Sehnen danach sein, Gott zu sehen, aber wir können es ja nicht – so wie der Mann vom Lande nicht über die Türschwelle kommt – und im  Original stehen anstatt „o Gott, nach dir, dich zu sehn, die nah zu sein“ die Worte „o Lord, for you to reveal yourself to us“; to reveal bedeutet aber offenbaren und das ist unvergleichlich besser. Ein Offenbarung, was das Gesetz darstellt, gibt die Parabel Kafkas nicht.

Als Gedanke kommt mir noch: dualistische oder lineare Deutungsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Vielleicht hat Franz Kafka einen Text  geschrieben, der in einer anderen Kultur als Zen-Koan verstanden würde.

Das Altargesteck gehört zum Gottesdienst, aber es konnte nicht zur Interpretation der Parabel beitragen. Die Blumen standen jedoch versöhnlich und hoffnungsvoll auf dem Altar.





Inspiriert vom täglichen Blumenstrauß
auf einem Fahrrad von Ai Weiwei (艾未未).

Links und Anmerkungen:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Auferstehungskirche_(K%C3%B6ln-Buchforst) Die Bepflasterung (die Fußboden der Kirche ist ebenso gestaltet) steht unter Denkmalschutz. In den 1960iger Jahren war Barrierefreiheit noch kein Thema. Sie ist später von außen mit einer Schutzfarbe überzogen worden – mein Vater (Dipl.-Ing. Gerhard Kirsch) hielt das auch für dringend geboten, um den Beton vor Verwitterung zu schützen.
[2] Die dem heiligen Nikolaus von Flüe, genannt Bruder Klaus, gewidmete Feldkapelle ist eine privat gestiftete und erbaute Kapelle. https://www.feldkapelle.de/  
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Vor_dem_Gesetz und der Text selbst:
https://de.wikisource.org/wiki/Vor_dem_Gesetz  
[4] Da wohnt ein Sehnen tief in uns (Eugen Eckert, 1999) nach There is a longing (Mary Anne Quigley, 1992). Lied 209 in: Das Liederbuch. Lieder zwischen Himmel und Erde. Strube-Verlag, München 2023 (16. Auflage). ISBN: 978-3-926512-80-2.
[5] https://rheumatologe.blogspot.com/2017/05/sammelsurium-148-22052017.html


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