Thursday, November 30, 2023

K. und der Henker

Achtung! Nichts für zarte Gemüter!

K. saß in seiner Zelle und erwartete den Henker. Der Henker aber ließ auf sich warten wie jeden Tag, denn er war noch mit dem Galgen beschäftigt. Im Hofe des Gefängnisses war nämlich schon vor vielen Jahren ein Galgen für K. errichtet worden. Der Henker ging Tag für Tag zum Galgen, wischte den Staub oder sonstigen Schmutz von ihm ab, polierte das Holz, prüfte den Fallmechanismus; manchmal ölte er ein wenig das Scharnier oder den Hebel zum Lösen der Platte, auf die man den Delinquenten stellen würde. Dann prüfte er das Seil auf seine Festigkeit und auch, ob das Seil richtig durch die Schlinge liefe. Dann pflegte der Henker zu K. zu gehen, um ihn aufzufordern, doch endlich mit ihm zu kommen. Aber K. folgte ihm nie, denn er machte Eingabe über Eingabe und stellte Antrag über Antrag zur Wiederaufnahme des Verfahrens, so daß er dem Henker jedes mal beschied, er müßte weiter warten. Und schließlich kurz bevor der Henker starb, fragte er K., warum er die Zelle nie verlassen habe, denn die Tür stand doch immer offen. K. sah, daß dem Henker nur noch Sekunden bis zum Tode blieben, und da sagte er ihm: „Ich mußte abwarten, bis du gestorben bist.“ Und als der Henker gestorben war, verließ K. die Zelle und das Gefängnis. Was aus dem Galgen wurde, ist nicht überliefert worden.

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